Rede anlässlich der Ausstellungseröffnung im Kunst und Kultur zu Hohenaschau 2013

Klaus Schönmetzler
Sie sehen mich in einem Dilemma. Denn was immer sich hier zu den Ölgemälden von Edite Grinberga sagen lässt – es führt zunächst mal zuverlässig in die Irre. Bereits der Begriff „Gemälde zielt an dem scheinbar fast körperlosen Lasurstil dieser Künstlerin vorbei, der – ohne erkennbare Vorzeichnung oder Grundierung auf die weiße Leinwand aufgebracht – weit eher an die Technik überdimensionierter Aquarelle erinnert. Aber – so absurd es klingt – an Aquarelle in Öl auf Leinwand.

Ebenso riskant und tückisch bleibt es, die Bildgattung zu benennen. Stillleben? Gewiss, das sind die Werke. Mehr noch: Sie sind Stillleben in einem fast barockem Sinn, in dem gerade Kleinigkeiten – eine Spiegelscherbe, ein Skalpell, ein leerer Rahmen – höchste Symbolkraft anzunehmen vermögen. Aber das Entscheidende sind dennoch eben nicht die in den Vorder- oder Mittelgrund gerückten, fast schon überplastisch modellierten Mal-Objekte, sondern die Räume, die sie umgeben. Also sind es doch Interieurs? Gewiss. Doch wieder ist das Wort nur halb zutreffend – obwohl die Künstlerin sich mehrfach sichtbar und ausdrücklich auf Vermeer beruft (dazu nicht ganz so ausdrücklich, doch dafür umso zwingender auf Vilhelm Hammershøi). Dennoch sind die Bildräume von Edite Grinberga gerade keine genrehaften bürgerlichen Zimmer, sondern gähnend leere White Cubes. Die Gemälde nutzen sie gleichsam als freigeräumte Bühnen, haben ihren musealen Spielort schon im Handgepäck.

Spielort? Der nun wiederum setzt Spieler, setzt den Menschen immanent voraus. So wie die Innenräume von Vermeer ihre Bewohnerinnen zwingend brauchen, so, wie Hammershøi die Frauen seiner Bilder zwar zumeist in Rückansicht, aber doch nicht minder intensiv und leise leidenschaftlich inszeniert. Und selbst wo er menschenleere Räume malt und damit Frau Grinbergas Werken eine Steilvorlage liefert, ist doch sichtlich alles intensiv bewohnt, möbliert, belebt, nur eben für Momente zufällig verlassen.

Das nun scheint zunächst tatsächlich übertragbar. Denn wirken diese Bilder mit den scheinbar zufällig verstreuten Wäschestücken, den gerade einen Spalt breit offenen Türen, den just eben verbrannten und noch leise flackernden Briefen nicht, als hätte der Urheber oder besser: die Urheberin den Raum gerade erst verlassen? Aber: wieder falsch oder zumindest doppeldeutig. Denn der rote Morgenmantel und das Unterhemd am Kleiderbügel hängen eben nicht im Schrank. Sie hängen wie die Raumobjekte einer Galerie der Gegenwart an Perlonschnüren. Sie wurden vorsätzlich arrangiert, sind ausgestellt wie inszenierte Schau-Objekte.

Deshalb gibt es in den Bildern auch nur einen einzigen aktiven Spieler. Doch der ist dafür allgegenwärtig. Er ist sogar, um die recht derbe Terminologie der Bühne anzuwenden, eine echte Rampensau. Er spielt sich schamlos in den visuellen Vordergrund, obwohl es seinem eigentlichen Wesen in der Malerei weit eher angehört, dezent zu sein und nicht sich selber, sondern Menschen und Dinge zu erhellen. Denn er ist das Licht. Er ist die aberwitzig inszenierte, segmentierte, kolorierte Helligkeit im Grau der Flächen.

Wären nicht die unsichtbaren Fenster, die den Szenen eine magisch intensive Leuchtkraft gäben, die uns Gegenstände – Stühle, Schränke, Vorhänge und Fensterkreuze – ahnen lassen, von denen das Bild selbst nichts weiß, die uns mal eiskalte Winterhelle und dann wieder warmen Abendgoldglanz ahnen lassen: Diese Bilder wären leer und fad und tot. So aber leben, leuchten, irisieren sie, als wären kostbarste Momente eben noch mit einer imaginären Kamera eingefangen.

Sagte ich gerade Kamera? Dann könnte es am Ende gar ein ganz spezieller Fotorealismus sein, den wir erleben? Ach du liebe Güte – welch ein Unsinn! Wo sich alles nur der Malerei verdankt, wo kein pingeliger Abmal-Furor, sondern ein ruhig fließender, sacht strukturierter Pinselstrich den Werken Seele einhaucht. Wo im Gegenteil – ich hab’ es ausprobiert – bereits das simple Abfotografieren diesen Bildern wie ein hungriger Vampir das Leben aussaugt.

Also gut! Soweit die Liste der erhellenden Negativa. Eines nämlich scheint doch positiv unwiderleglich festzustehen: Es sind ganz und gar weibliche Bilder. Auch wenn der Begriff „weibliche Bilder“ uns in seiner ideologischen Überfrachtung sogleich wieder stocken lässt. Aber seien wir ganz nüchtern. Wäre ein männlicher Maler derart passioniert besessen von Dessous, von Wäsche, Betten, Ballerinenschuhen, von High Heels und modisch schicken Taschen: Wir dürften ihn mit gutem Grund für einen Fetischisten halten. Dennoch scheinen wir sogar an diesem Argument zu scheitern. Denn Edite Grinberga malt mit gleichem Engagement auch Violinen, Celli, Kunstdruckmappen, philosophische Bücher, Kabel, einen Reisepass. Das so plastisch Körperhafte ihrer Bildobjekte wirkt zugleich weitgehend entkörperlicht. Denn die Dessous verraten nichts von einer imaginierten Trägerin. Sie sind so neutral wie in den Auslagen sehr teurer Modegeschäfte, deren Betreiber sich hüten würden, sie wie Dekorateure eines Ramschladens irgendwelchen Kleiderpuppen anzuziehen.

Trotzdem – indem wir dies feststellen, geht auf einmal eine der nur angelehnten Türen dieser Bilder sehr weit auf. Ehrlich gesprochen geht sie allerdings nur auf, wenn wir die seriöse, also die abstrakte Kunstbertrachtung für einen Moment verlassen und die Vita von Edite Grinberga mitbedenken. Geboren ist sie Riga, Lettland, während der letzten Eiszeit des Ost-West-Konflikts. Sie hat dort in Riga dann auch Kunst studiert, aber zugleich Philologie, Anglistik und Textilgestaltung. Sie hat dort wohl auch, so wenigstens wage ich es zu vermuten, Ballettunterricht genossen oder ihn zumindest mit viel Anteilnahme mitverfolgt (auch ein winziges Degas-Zitat spielt darauf an). Und sie hat im Schlüsseljahr der Weltgeschichte 1989 freischaffend mit Rauminstallationen, Wachsfiguren und Theaterkostümen begonnen (holla: gleich drei Schlüsselwörter hintereinander!), ehe sie schon mit der ersten großen Welle aus Osteuropa 1990 nach Berlin übersiedelte, wo sie heute immer noch ihr Atelier betreibt.

Und das war’s auch schon. Mehr gibt die extrem karg publizierte Biographie nicht preis. Aber es reicht hin, um all die Hallräume der Bilder plötzlich klingen zu lassen. Aber da wir schon vom Klingen reden: Einer der intensivsten Wesenszüge dieser Malereien ist im Gegenteil ihr dröhnendes Verstummen. Die Violinen und das Cello haben keine Bögen, die sie dem gemalten Schweigen entreißen könnten. Auf dem zweckentfremdeten Klavierhocker liegt nur ein Hemd, ein leeres Buch, ein Damenschuh sowie ein geradezu pervers prosaisches Kabel. Die Klavierrolle eines elektrischen Klaviers mit ihren eingestanzten Rillen pinnt vergilbt und sinnlos als Dekoration an der Wand. Der Ballerinenschuh – nur einer statt des notwendigen Paars, ein Solipsist, der sich das fehlende Pendant allein im Abbild eines zerbrochenen Spiegels ergänzt – liegt müßig da, auch wenn die winzige Spur von Blut an seiner Spitze die vergangene Qual des Tanzenlernens noch erahnen lässt. Und sogar die Bücher – Philosophenwerke meistens – geben sich nicht preis, liegen geschlossen oder mit dem Rücken nach oben (nur ein aufgeklapptes Tagebuch lässt Schrift und Wortklang ahnen und verweist damit erneut auf eine autobiographische Grundierung dieser Malerei).

Ein weiteres markantes Leitmotiv im Schaffen von Edite Grinberga ist der Reisepass: erneut ein symbolbesetztes Thema, das sich fast schon allzu mühelos der Vita dieser Malerin zuordnen lässt. Mir jedoch will dieser Pass nicht als Relikt, sondern weit mehr als eine ins Objekt gefasste Utopie erscheinen. Als Hilfsmittel zur Flucht aus einem selbstgesetzten Kosmos. Als latente Chance, sich und den eigenen Bildern zu entkommen. Immerhin war sie, die längst schon Arrivierte, 2011 dank eines Stipendiums am Santa Fe Art Institute in den Vereinigten Staaten. Und wie es der Zufall – oder dessen Gegenteil – auch immer will: Die Pass-Bilder entstanden alle im chronologischen Um- und Vor- und Nachfeld dieser Reise, dieses Ausbruchs aus der Berliner Szene-Existenz.

Bleiben die leeren Rahmen, diese optisch schlanken und doch um so sperrigeren Zeichen im Werk einer Künstlerin, die den eigenen Werken das Gerahmtsein aus Prinzip verweigert. Eben deshalb nämlich, aus der Haltung der Verweigerung heraus, sind diese Rahmen möglicherweise gleichfalls Ausdruck einer Utopie: nämlich als Zielpunkt nur noch Bilder über das Licht zu malen, völlig abgelöst von allen körperlichen Dingen, ganz und gar abstrakt und eben darum gegenständlich wie nichts anderes. Derart pur in ihrem Sein, dass man an Endes Ende wirklich Rahmen brauchen könnte, um die Bilder noch als Bilder kenntlich zu machen.

Verehrte Damen und Herren, fast schon würde es mich reizen, nun zum Abschluss doch noch über die Dessous zu reden (es sind übrigens, entgegen unser aller Erinnerung, im engsten Sinn des Wortes nur zwei Bilder, die hier zählen). Worum aber geht es dort? Nein, eben gerade nicht um Reizwäsche, sondern um das Wechselspiel von Plastizität und Transparenz, von schwarzer Körperhaftigkeit und dem fast gläsern Immateriellen zweier einander bedingender Stoffe. Licht und Schatten also – und das flirrende Etwas irgendwo dazwischen. Kurz: Es geht schon wieder um das Generalthema von Edite Grinbergas Kunst schlechthin.

So abstrakt jedoch, so nüchtern sachlich und zugleich so philosophisch und poetisch kann wohl wirklich einzig eine Frau das Thema Dessous abhandeln. Womit ich Ihnen allen, Männern wie auch Frauen, amüsiert und auch ein bisschen resigniert einen sehr schönen Abend wünsche.

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